Während des Nationalsozialismus bestimmten ein striktes ökonomisches Spardiktat, die eugenische Ausrichtung der Gaberseer Klinik sowie die Deportation von Patienten aus Attl und Gabersee die Geschichte der Anstalten. Die entwürdigenden Maßnahmen setzten jedoch schon weit vor der Ermordung der Menschen ein.
Zum 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, das die zwangsweise Sterilisierung von als erbkrank bewerteten Menschen legalisierte.
Die Haltung des Gaberseer Direktors Dr. Friedrich Utz zum Gesetz wich nicht von der anderer Anstaltspsychiater ab: „Die Einführung des Unfr[uchtbarmachungs-]G[esetzes] traf Kranke und Angehörige zwar hart und die Szenen, die sich anfänglich abspielten, waren kaum zu ertragen; im Laufe der Zeit fanden sich jedoch beide mit dem Unvermeidlichen im großen und ganzen ab.“ Gemäß diesem Gesetz konnten „erbkranke“ Menschen, die an „1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erheblicher körperlicher Missbildung“, sowie an „schwerem Alkoholismus“ litten, auf Antrag und nach Urteil eines Erbgesundheitsgerichts sterilisiert werden.
Der Antrag auf Einleitung eines solchen Verfahrens konnte vom Betroffenen selbst, für die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten vom Anstaltsleiter aber auch von Gebietskörperschaften gestellt werden.
Schon vor Inkrafttreten des Gesetzes stellte der Ortsfürsorgeverband Wasserburg im November 1933 Anträge auf Sterilisierung von sechs in Wasserburg wohnenden Bürgern „wegen geistiger Minderwertigkeit“.
Zwischen 1934 und 1939 wurde die Durchführung des Verfahrens für 689 Gaberseer Patienten beantragt und in 571 Fällen Sterilisierungen durchgeführt. Die Operationen wurden in Eglfing-Haar und im städtischen Krankenhaus Wasserburg vorgenommen. Da, wie Utz in der Gaberseer Chronik schreibt, durch die Verlegungen der zu sterilisierenden Patienten nach Eglfing-Haar „diese völlig erregt“ wurden und „Schwierigkeiten beim Eingriff“ machten, wurden die Operationen an Anstaltspatienten seit 1936 ausschließlich im damals noch städtischen Krankenhaus Wasserburg ausgeführt. Bei diesen Operationen assistierte ein Gaberseer Anstaltsarzt sowie eine Abteilungspflegerin.
Auch die Stadt Wasserburg a. Inn war direkt in diese Vorgänge involviert. Als im Juli 1934 der städtische Krankenhausarzt Dr. Lionel Müller die weitere Durchführung von „Operationen zur Unfruchtbarmachung“ ablehnte, da die dort beschäftigten Barmherzigen Schwestern bei diesen Operationen „nicht beistehen“ dürften, veranlasste Bürgermeister Alfons Winter rasch, dass eine Gaberseer Schwester als Assistenz zur Verfügung gestellt wurde, woraufhin Müller die Eingriffe fortführte. Im Juli 1936 berichtete dieser dem Stadtrat, dass „diesseits an die 250 Sterilisationen vorgenommen wurden“, wobei nur wenige „Kranke“ „nicht von der Heil- und Pflegeanstalt her, sondern von ‚draußen‘ zur Vornahme der Operationen kommen.“ Im Zusammenhang eines Berichts des Bürgermeisters Michael Wölfle an die Regierung von Oberbayern zur vollständigen „Vorlage der Beschlüsse des Erbgesundheitsgerichts und der Aufforderungsschreiben des Gesundheitsamtes" durch die „Kranken“ bei „Unfruchtbarmachungen" wurden diese Informationen im systematisch-bürokratischen Ablauf des Vollzugs des Gesetzes willfährig gemeldet.
Links:
Bericht des im städtischen Krankenhaus beschäftigten praktischen Arztes Dr. Lionel Müller an den Stadtrat Wasserburg: Ablehnung der Durchführung von „Operationen zur Unfruchtbarmachung“ aufgrund fehlender Assistenz, vom 30.7.1934. Die Barmherzigen Schwestern ‚dürften‘ laut Müller bei diesen Operationen „nicht beistehen“ und „nicht anwesend sein“. Es ist davon auszugehen, dass die Kongregation sich aktiv weigerte, da die Eingriffe ihrer lang gepflegten Tradition humanitärer Hilfe widersprachen.
Auf der Rückseite dieses Berichts ist die Verfügung des Bürgermeisters Alfons Winter zur Vermittlung einer Schwester der Anstalt Gabersee zur Assistenz bei den im städtischen Krankenhaus durchzuführenden „Sterilisierungsoperationen“, vom 1.8.1934 angebracht. Der Entwurf des Schreibens an den Krankenhausverwalter zeigt, dass der Weigerung der Barmherzigen Schwestern bei den Operationen mitzuwirken, keine an diese direkt adressierte behördliche Reaktion folgte. Man wich aus auf anderes Personal und die Operationen konnten fortgeführt werden.
Rechts:
Abdruck eines Ministerial-Erlasses des Staatsministeriums des Innern an die Regierungen und über diese weitergeleitet an die Träger von Krankenanstalten (hier: die Stadt Wasserburg a. Inn mit Anbringung einer internen Verfügung des Bürgermeisters Michael Wölfle), welche „Unfruchtbarmachungen“ durchführen: Berichtsaufforderung über die Beibringung der Beschlüsse des Erbgesundheitsgerichts und der Aufforderungsschreiben des Gesundheitsamtes, vom 12.6.1936. Die Aufforderung zu Berichterstattungen verdeutlicht beispielhaft die durchweg systematisch-bürokratisch organisierten Sterilisierungen der betroffenen Menschen: Die Anträge auf Unfruchtbarmachung gingen von Wasserburg/Gabersee an das Erbgesundheitsgericht Rosenheim, dem als Berufungsinstanz das Erbgesundheitsobergericht München folgte. In nahezu allen beantragten Gaberseer Fällen erging das Urteil auf Vornahme der Sterilisierung, die Quote der Ablehnungen lag zwischen 6,7% (im Jahr 1935) und 2,5% (im Jahr 1938).