Die Barmherzigen Brüder übernahmen das ehemalige Atteler Benediktinerkloster – mit Ausnahme der Kirche und des Pfarrhofes – durch einen Kaufvertrag im Jahr 1874. Unter staatlichen Auflagen wurde eine „Pflegeanstalt für männliche Unheilbare“ eingerichtet, welche im Oktober 1874 mit neun Patienten öffnete. Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl der „Pfleglinge“, so dass 1902 ein Erweiterungsbau mit 80 Metern Länge an den alten Konventstock angesetzt wurde.
Das Leitmotiv des Ordensstifters Johannes von Gott „Das Herz befehle“ und das „Gelübde der Hospitalität“ begründeten den Einsatz der Barmherzigen Brüder für kranke, behinderte oder benachteiligte Menschen.
Neben der Pflege bewirtschaftete der Orden die zum Kloster gehörigen Güter. Wirtschaftsräume, wie eine eigene Bäckerei, Schreinerei, Dampfheizungsanlage und Wäscherei ließen die Einrichtung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend autark agieren.
In der Zeit des 1. Weltkrieges war die Lebensmittelversorgung stark eingeschränkt, der Orden musste – zum Nachteil aller Bewohner - sparen, „nur Vorräte an Wäsche und Kleidung waren verhältnismäßig reichlich.“
Eine Beschreibung der „Kretinenanstalt Attel“ in der Heimat am Inn aus den 1920er Jahren verdeutlicht, wie sich stark abwertende und eugenische Betrachtungen behinderter Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet hatten: „Wir betreten nun den länglichen Hofraum, […] ein erschütternder Anblick empfängt hier den Besucher […]. Vierzig und mehr geheimnisvolle Augenpaare starren in das deinige […]. Darunter ein „verbrecherähnliches Wesen, das dann von sonderbar irren Ideen […] zu erzählen sich abplagt.“ Und weiter: „Nicht größer als ein kräftiger Säugling, zählt dieses furchtbar anormale Leben bereits 26 Lenze. Alle Sinne sind tot, noch aber wehrt sich das widernatürliche Körperchen gegen sein Absterben. Vor solch unauslöschlichem Anblick wird Mitleid zum Hohn […].“
„Wenn Sie glauben durch die Verlegung der Pfleglinge irgendwie geschädigt zu sein, dann können Sie Ihre Ansprüche bei der Volksdeutschen Mittelstelle geltend machen, die die Räumung Ihrer Anstalt veranlasst hat.“
(Aus: Archiv der Stiftung Attl, Schreiben der Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar an die Pflegeanstalt Attl vom 7. Oktober 1940: Verlegung von Pfleglingen).
Die Pflegeanstalt Attl bot pflegebedürftigen oder behinderten Männern für viele Jahre Heimat. Doch die Senkung der Verpflegungssätze vor allem für chronisch kranke Patienten führte zunächst zu einer deutlich verschlechterten Pflege in den 1930er Jahren. Die als „Euthanasie“ bezeichnete systematische Tötung von Anstaltspatienten stellt im Rahmen der nationalsozialistischen Rassen- und Erbgesundheitspolitik kein isoliertes Geschehen dar. Sie ist Höhepunkt einer Entwicklung, die 1934 mit der Massensterilisierung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen begann und in der systematischen Tötung der Patienten gipfelte.
Ab 1937 wurden Ordensbrüder durch die Gestapo verhört, drangsaliert und auch inhaftiert.
Ende September 1940 erfolgte die Auflösung der Anstalt durch eine Anordnung des Innenministeriums.
230 „Pfleglinge“ waren zu diesem Zeitpunkt in Attel. Bis heute sind nicht alle Fragen zu den Schicksalen der Menschen geklärt, da die Quellenlage teils schwierig ist und die verschiedenen Patientenverlegungen dadurch bedingt undurchsichtig sind.
126 pflegebedürftige Menschen wurden bei Auflösung zunächst in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar verlegt:
Von den in die Schwesteranstalten Attls (Johannesbrunn, Straubing, Reichenbach, Gremsdorf und Schweinspoint) überführten behinderten Männern wurde ein Teil weiterverlegt, und zwar in die Heil- und Pflegeanstalten Regensburg (aus Reichenbach), Erlangen (aus Gremsdorf) und Mainkofen (aus Straubing):
Die Namen dieser 105 Attler NS-„Euthanasie"-Opfer werden am Wasserburger Denkmal genannt.
Ab Januar 1942 wurde Attl durch die Wehrmacht zum Reservelazarett bestellt und entsprechend eingerichtet. Gegen Ende des Krieges waren hier ca. 200 Verwundete untergebracht.
Links:
Bericht des Anstaltsvorstands Frater Walter Bolz über die Beschlagnahmung der Pflegeanstalt Attl und die „Verlegung" der „Pfleglinge“ vom 13. März 1940 (Die Angabe des Ausfertigungsdatums kann nicht stimmen, da Ereignisse angesprochen werden, die später, nämlich hauptsächlich im September und Oktober 1940 geschahen – wahrscheinlich handelt es sich um einen Tippfehler und es ist der 13. März 1941 als Datierung der Notiz gemeint). Im Bericht wird die Ermordung von Attler „Pfleglingen“ nur mittelbar angesprochen. Tatsächlich wurden 83 Menschen unmittelbar nach ihrer Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar dort selektiert, ab Oktober 1940 in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und dort umgebracht. Frater Bolz umschrieb, dass „von den überstellten Kranken nach privaten Mitteilungen 78 Pfleglinge in eine Reichsanstalt überführt“ worden seien.
Rechts:
Vereinbarung/Vertrag zwischen der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar und der Pflegeanstalt Attl vom 22. Januar 1941. Für die in Eglfing-Haar verbliebenen Attler „Pfleglinge“, welche nicht nach Hartheim deportiert wurden, ‚übernahm‘ Eglfing-Haar ‚Personal‘ (vier Barmherzige Brüder) aus Attel. Somit waren auch diese direkt in die Vorgänge dort involviert.
Ein Einzelschicksal und eine wichtige archivalische Überlieferung
Bei der Abbildung handelt es sich um die erste Seite einer Liste der aus Attl nach Eglfing-Haar überführten „Pfleglinge“ vom 22.9.1940. Diese Liste befindet sich in der Patientenakte des Josef Lanzl und ist die einzige im Original erhaltene Liste dieser „Patientenverlegung" im Zuge der Beschlagnahmung der Anstalt Attl. (Im Archiv der Stiftung Attl liegen später/nachträglich erstellte Listen vor). Im Abgleich mit den im Staatsarchiv Nürnberg erhaltenen Deportations-/Transportlisten zur Tötungsanstalt Hartheim lassen sich die im Rahmen der „T4-Aktion" ermordeten Attler Patienten ermitteln. Der Name „Lanzl" ist in dieser Liste rot unterstrichen. Sie ist damit sozusagen als Vorblatt seiner nachfolgenden Krankenakte einzuordnen.
Josef Lanzl wurde am 5.4.1900 im Landkreis Erding geboren. 1931 „überstellte“ ihn die Heil- und Pflegeanstalt Gabersee nach Attl zur „dortigen Pflege“. Aus dem „amtsärztlichen Zeugnis“ für die „Pflegeanstalt Attl“ geht hervor, dass Auslöser seiner psychischen Erkrankungen traumatisierende Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges gewesen sein könnten. Josef Lanzl starb „hochgradig abgemagert“ am 15.4.1941 in Eglfing-Haar.
Im August 1945 schloss das Lazarett auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung.
Die Gebäude der ehemaligen Anstalt Attl und die der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Gabersee waren als Orte der Täter des Nationalsozialismus prioritär für eine Beschlagnahmung und wurden so in den ersten Nachkriegsjahren als größte Displaced Persons-Lager des Umkreises (mit einer Belegung von zusammengenommen durchschnittlich 2.500 jüdischen DPs) umgenutzt. Als Displaced Persons bezeichnet man Menschen, die, bedingt durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, ihre Heimat verloren hatten, oder nicht mehr dorthin zurück konnten. In Attel wurde zunächst ein UNRRA-Lager für polnische DPs (zumeist ehemalige Zwangsarbeiter) eingerichtet. Nach deren Wegzug im Oktober 1946, kamen 300 jüdische DPs nach Attel.
Die noch verbliebenen Barmherzigen Brüder und 24 „Pfleglinge“ mussten aus dem Klostergebäude ausziehen. Dem Orden sind die Gebäude am 1. Juni 1950 zurückgegeben worden.
Ab 1951 wurde die Behindertenbetreuung mit 100 „Pfleglingen“ wiederaufgenommen. 1970 übernahm der Caritasverband die Verwaltung der Stiftung Attl. 1979 wurde eine „Werkstatt für behinderte Menschen“ eingerichtet, es folgten eine „Förderschule zur individuellen Lebensbewältigung“ und die Gründung einer „Heilpädagogischen Tagesstätte“. 1987 gründete die Stiftung Attl ihre erste Außenwohngruppe.
1994 gab der Caritasverband die Verwaltung der Stiftung Attl ab, sie verwaltet sich seitdem selbst. Bis heute folgen diverse Erweiterungen und Modernisierungen, wie z.B. die Einrichtung einer Gärtnerei mit 30 Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung. Es wird ein umfangreiches Kulturprogramm etabliert, ein eigenes Orchester gegründet oder die Erweiterung und Sanierung der Klosterflügel abgeschlossen. Nach Gründung der FairJob gGmbH teilt sich diese Integrationsfirma in drei Geschäftsbereiche.
Heute setzt sich die Stiftung Attl gemäß ihrem Leitbild vor allem dafür ein, „dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung ihr Leben selbstbestimmt gestalten und am gesellschaftlichen Geschehen teilhaben können." Sie tritt „gegen jede Benachteiligung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, älteren Menschen und Menschen mit Behinderung engagiert ein."